Freitag, 19. September 2014

Frankreich 2009 (9): Maria voll der Gnade

Zu meiner Schande habe meinen Blog zu lange vernachlässigt. Da ich gestern gleich zweimal auf unvollendete Geschichten angesprochen wurde, nehme ich das zum Anlass, wenigstens mal meine Frankreichgeschichte fertig zu schreiben. Schließlich gibt es von da noch einiges zu berichten. Da ich seit über einem Jahr dazu nichts mehr geschrieben habe, hole ich kurz aus.

Vor fünf Jahren verbrachte ich ein Jahr in Rennes, Frankreich. Nachdem ich Ende August aus meinem Wohnheim geschmissen wurde, nahm ich die erstbeste Wohnung, die ich bekam. Das stellte sich vielleicht nicht als schlechte, aber als wenigstens abenteuerliche Entscheidung heraus. Ab sofort wohnte ich zur Untermiete bei Maria, Portugiesin und ehemalige Friseurin, die aufgrund eines Autounfalls arbeitsunfähig und morphiumabhängig wurde. Das erklärte manches, aber nicht alles. Maria war verrückt, im Guten wie im Schlechten. Sie war sicherlich die herzlichste Person, die ich kannte, und gleichzeitig das beste Beispiel für die Vorteile von Affektkontrolle. 


Als ich eingezogen war, war sie noch mit Olivier zusammen, ein Bäcker mit genialen Kochkünsten, mit einem Herzfehler, der unter Alkoholkonsum tödlich sein kann, mit aggressivem und gewalttätigem Verhalten nach dem Konsum von Alkohol und mit einem Alkoholproblem. Das alleine war schon keine gute Kombination. Zusätzlich als Brandbeschleuniger wirkten Marias Stimmungen. Derer gab es nur vier, dafür pendelten sie von Extrem zu Extrem: himmelhochjauchzend, höllischwütend, morgendlichmüdig, morphiumapathisch. Olivier griff sie zweimal körperlich an, dann schmiss sie ihn endlich raus und zeigte ihn bei der Polizei an.

Jetzt wurde es richtig hässlich. Am Telefon bedrohte er Maria, drohte ihrer Tochter und Enkelin etwas anzutun, das Haus zu verbrennen, bedrohte meine andere Mitbewohnerin Aurore, auch wenn ich nicht verstand, was sie damit zu tun hatte, aber die redeten auch alle immer so schnell französisch, da unterlief mir auch das ein oder andere Detail, und er unterstelle Maria, eine Affaire mit mir zu haben. „Mit mir?“ – „Il es fou, complètement  fou, Stéphane“, sagte Maria, „er ist verrückt, komplett verrückt.“ Erstmal habe ich herzhaft gelacht. Ich, gerade Mitte zwanzig, sollte eine Liaison mit einer Fastfünzigerin haben, mit Rosentattoos im Gesicht, am Hals, auf dem Arm. Das war absurd. Gut, ich ernährte mich in letzter Zeit nur von Pizzen, Kaffee und Zigaretten und war mittlerweile so fett, dass ich die Luft anhielt, während ich mir die Schuhe zuschnürte, was meine Wahlmöglichkeiten auf dem Partnermarkt jetzt nicht gerade ins Unendliche steigerte - aber bis zu einer solchen Verzweifelungstat musste noch viel passieren. Eine Amputation der Augen zum Beispiel. 


Ich stellte mir vor, wie ich Olivier auslachen würde, wenn er mir auf der Straße begegnen würde und mich damit konfrontieren würde. Später in meinem Zimmer stellte ich mir vor, wie witzig Olivier die Angelegenheit wohl fand und wie herzhaft er lachen würde, wenn ich mich über ihn amüsieren würde, weil er denkt, ich hätte ein Verhältnis mit Maria, seiner eingebildeten großen Liebe. Wahrscheinlich eher so mittel. Die Zeit damals war ziemlich schräg. Einerseits war Olivier weg und doch ständig präsent. Das Problem löste sich kurz vor Weihnachten praktisch in Luft auf: Er tötete sich selbst mit Schlaftabletten.

Kurz nachdem Olivier ausgezogen war, hatte Maria auch schon einen neuen Freund: Bernard. Ein super Typ! Erinnerte mich stark an Jean Gabin, bärig, gutmütig, rauchend, französisch. Wie Maria wurde er in einer Beziehung Opfer häuslicher Gewalt. Bis dahin dachte ich, das gäbe es bei Männern gar nicht. Seine Narben von Messerstichen und Zigaretten, über den ganzen Oberkörper verteilt, lehrten mich eines besseren. Ich fragte ihn, warum er sich nicht gewehrt hatte, schließlich sei er doch bestimmt stärker gewesen. Ihm wurde beigebracht, man schlage keine Frauen, sagte er, erst recht nicht, wenn man sie liebe. Sie konnte wundervoll sein und im nächsten Moment mit dem Messer auf ihn losgehen. Er versuchte, ihre Angriffe abzuwehren. Das klappte meistens, nicht immer. Er konnte sie nicht schlagen, nicht einmal, um sich zu verteidigen. Zur Polizei wollte er nicht gehen, weil er befürchtete, dass sie ihn nicht ernst nehmen würden, oder gar auslachen. Arme Sau, aber als Anti-Olivier der perfekte Partner für Maria. So perfekt, dass ich meine übliche, zurückhaltende Beifahrerhaltung hinsichtlich Beziehungen anderer Leute aufgab, als Maria die Beziehung einmal unnötig gegen den Baum der naiven Gutgläubigkeit fahren wollte.

In der Küche setzte ich mich zu Maria, zündete mein Frühstück an und imprägnierte meinen Bademantel mit unserem Zigarettenrauch. Noch kurz nagte Maria wütend an ihrem Fingernagel, aber da sie jetzt mich als Publikum hatte, konnte sie ihrer Wut endlich freien Lauf lassen. „Was für ein enfoiré! Ein fils de pute! Connard! Keine Männer mehr! Nie mehr!“ Irgendwas hatte ich verpasst. Mir fehlte offensichtlich ein wichtiges Stück Information, ein Teil des Puzzles, damit ich verstand, was Maria so aufbrachte. Sicher, es hatte mit Bernard zu tun, oder mit Olivier, oder mit Aurore, oder dem Freund von Aurore, oder dem Freund von Aurore, der von dem anderen Freund wusste, oder der Versicherung vom Auto oder der Krankenkasse oder weil ich mal wieder nicht abgespült hatte. Und so nahm ich alle meine geistigen Kräfte zusammen, die mein Körper als Vorschuss auf späteren Kaffeekonsum bereits jetzt freisetzte, um mit meinem begrenztem französischem Vokabular, eine Frage zu formen, um präzise wie möglich die Quell von Marias Seelenpein zu Tage zu fördern.
 

„Hä?“
 

Sie antworte sehr ausführlich, ich verstand nur kaum etwas.Sie nuschelte, brabbelte. Stück für Stück reimte ich mir alles zusammen.
„Also, Maria, ich fasse zusammen: Du hast mit einem Mann telefoniert, der in dich – warum auch immer – verliebt ist. Von dem hast du die Information, dass Bernard sich hinter deinem Rücken mit einer anderen Frau trifft, was dieser Kerl von einer Frau weiß, die selbst in Bernard verliebt ist. Und was genau hast du dann gemacht?“
„Ich habe Bernard angerufen. Er soll sich nie wieder blicken lassen, cet enfoiré! Ich habe die Schnauze voll von Männern. Zum Teufel kann er sich scheren! Nie wieder blicken soll er sich hier, nie wieder!“ Sie schluchzte.
„Was hat er denn dazu gesagt?“
„Bernard? Nichts. Ich habe ihm nur auf die Mailbox gesprochen.“
„Du hast mit ihm Schluss gemacht, ohne mit ihm darüber zu reden?“
„Ja, klar, wenn er sich mit anderen Frauen trifft! Was soll man da noch bereden?“
„Das hast du von einem Kerl, der was von dir will und von einer Frau, die was von Bernard will?“
„Ja.“
„Und du hast dir nicht angehört, was er dazu zu sagen hat?“
„Nein.“
„Von einem Kerl, der was von dir will und von einer Frau, die was von Bernard will?“
„Stéphane, worauf willst du hinaus?“
„Sag mal, Maria, siehst du da keinen Interessenkonflikt?“
„Einen ... was?“
„Ist dir nicht in den Sinn gekommen, dass beide lügen könnten?“
„Warum sollten sie denn so etwas tun?“

„Maria, du machst mich fertig. Jetzt ruf Bernard an und frag ihn, was er dazu sagt!“
„Aber ...“
„Keine Wiederrede. Maintenant. Sofort.“
 

Zu meiner Überraschung hörte sie auf mich. Sie verschwand mit dem Telefon in ihrem Schlafzimmer. Das wütende Geschrei wurde schnell schwächer, wechselte zu entschuldigendem Flehen, leisem Murmeln, Stille.

Ich habe zwar nie erfahren, wie er sich verteidigte, aber am Abend saß er wieder in der Küche und rauchte, plauderte und war wieder so typisch französisch wie Jean Gabin. Seine Hand fand die von Maria, sie lächelten.

Der nächste Vormittag war der von Oliviers Suizid.