Dienstag, 12. Februar 2013

Frankreich 2009 (5): Ein lustiger Besuch im Krankenhaus, 1. Akt

Im Folgenden schildere ich den wohl absurdesten Tag meines Lebens. Es ist so vieles absurd daran, daß ich die Geschichte in drei Teile splitten musste. Dazu ist die Geschichte so sehr absurd, daß ich hier noch einmal betonen muss, daß alles so stattgefunden hat. Kein Scheiß. Aber lest selbst.



Die Sonne wärmt mir den Rücken, die Jacke werfe ich elegant über die Schulter und komme mir so cool vor wie MacGyver, nachdem er mit einer Büroklammer eine Atombombe entschärfte. Ein Mädchen schmiert sich Erdbeereis quer über das Gesicht und dann auf den Pulli seiner Mutter, als diese sich erdreistete, ihrer Tochter die Siffe aus dem Gesicht zu wischen. Die Frau fluchte kurz über diese kindliche Form der Transferleistung, nur um das nun weinende Kind wieder zu beruhigen und wieder ein neues Eis zu kaufen. Ein Pärchen schmust auf der Wiese eines kleinen Parkes, sie liest einen Roman, während er witzige Figuren in die vorbeiziehenden Wolken interpretiert. Es zwitschern die Vögel, die sich ihre Reise in den Süden immer auf Morgen verschoben haben und jetzt auch keine Lust mehr haben, den Strebern ihrer Gattung nachzufliegen. Verständlich, wenn man bedenkt, dass der deutsche Singvogel an sich die besten Plätze auf den Palmen schon mit seinen Handtüchern belegt hat. Die Stimmung ist dann auch immer mies, wenn immer noch über die Südländervögel gelästert wird, die nie in den Süden und nie in den Norden fliegen, weil sie da bleiben, wo sie das ganze Jahr über bleiben können. Dieses faule Pack.

Es ist Mittagspause. In Frankreich wird nun im Restaurant geschmaust, was das Zeug hält: Unter fünf Gängen und zwei Flaschen Rotwein pro Person setzen die sich erst gar nicht an den Tisch. Die Studenten quetschen sich durch das Restaurant Universitaire, die Mensa, und erhalten nur drei verschiedene Gänge. Die armen Schweine. Als Ausgleich für diese magere Kost, bekommen sie Leitungswasser gratis. Doch ich komme weder aus der Mensa, noch aus dem Restaurant noch führt mich mein Weg dort hin. Ich war in der Uniklinik und schlendere nun zur nächsten Tankstelle. „Was machst du denn in der Uniklinik, Kafitz?“, werdet ihr wohl erschrocken fragen. „Hast du jemanden besucht? Hat sich einer deiner Freunde mit Alkohol vergiftet und musste dort jetzt ausnüchtern? Oder warst du gar selbst Patient: Hat Olivier dich verprügelt, weil er dachte, du hättest mit Maria, deiner Vermieterin, eine Affäre, was wiederum total lächerlich ist, weil die Frau schon jegliches Mindesthaltbarkeitsdatum mit Jahrzehnten überschritten hatte?“

Nein, liebe Freunde, der Grund meines Besuches war ein anderer. Lasst mich erzählen.

Vor ein paar Tagen zerrten Schreie, die durch das offene Fenster krochen, an meiner Aufmerksamkeit. Es war mir höchst unangenehm, meine Konzentration lag eigentlich auf einer intellektuelle Herausforderung, die über den Bildschirm meines Laptops flimmerte: Robocop auf Französisch – ohne Untertitel. Zusätzlich klangen diese Schreie wie die einer Frau, die geschlagen wurde, worin ich mittlerweile unfreiwillig Erfahrung gesammelt hatte. Meine Zimmertüre blieb aber stumm, Maria und Olivier konnten die Verursacher dieser Störung also nicht sein. Ich hätte natürlich auch noch die Gendarmerie anrufen können, aber mit meiner Telefonkompetenz hätte ich vermutlich nur Verwirrung gestiftet. Wenige Momente später erklang auch schon eine Polizeisirene und ich hörte, dass es gut war – selbst ohne meine Einmischung. 


Fürs Erste beruhigt setzte ich meine Lektion im Bette liegend fort, doch mit einem Male bekamen die Präventivtötungen von Robocop einen eigenartigen Klang. ‚Das passt da doch gar nicht rein!‘, ärgerte ich mich. ‚Eigentlich sollen die Pistolenschüsse doch platzen und nicht so dumpf hämmern. Warum ruft denn da ständig jemand im Hintergrund „Stéphane! Stéphane!“? Das ergibt in der Szene doch gar keinen Sinn.‘ Ich wurde langsam richtig sauer. Ich hasse handwerkliche Schnitzer in Filmen, vor allem wenn sie so unnötig sind. ‚Warum hör ich denn immer noch diese schlechtgemachten Pistolenschüsse, obwohl die Schießerei vorbei ist? Das hört sich so an als würde ... als würde ... als würde jemand an die Tür klopfen!‘ Dieser Groschen fiel tief, sehr tief. So froh ich war, dass es nicht am Film lag, so schnell hechtete ich zur Tür, wo ich eine aufgelöste Maria vorfand.
 

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich sie schon in einigen Situationen erlebt, in der sie ziemlich hinüber war, meistens kurz nachdem sie ihre Medikamente genommen hatte. Sie schien dann alles durch einen Schleier wahrzunehmen, so als sei ihr Hirn in einen Kokon einhüllt. Das waren auch die Momente, in denen ich kaum verstand, was Maria sagte, da sich meistens ihre Zunge so ungünstig zwischen die Lippen schob, so dass von allen Vokalen wie Konsonanten kaum mehr als ein Blubbern übrig blieb. In der Regel saß sie in solchen Momenten nur apathisch am Küchentisch, rauchte und stand ab und zu auf, um ihren Kaffee in der Mikrowelle aufzuwärmen, den sie dann doch nie trank.
 

Doch hier war es anders. Ich verstand die Worte die sie sagte – nein, die sie schrie, doch sie ergaben keine zusammenhängenden Sätze, keinen Sinn. Sie klopfte wie eine Wilde an die Tür von Aurore, schrie erneut und sauste durch die Wohnung wie Dagobert Duck auf Crack und ohne Gehstock. Nachdem Maria das zweite Mal an mir vorbeilief, konnte ich einige Wortfetzen zu einer groben Ahnung zimmern. „Olivier ... m’a agressé ... menaçé ma fille ... et Aurore ... veut la tuer ... “ Olivier hätte sie also angegriffen und bedrohte jetzt Marias Tochter und Aurore mit dem Tod. In meinem müden Kopfe ergaben solche Infos keinen Sinn. Was hatte den Aurore mit den Angelegenheiten von Olivier zu schaffen? Ich kratzte mich am Hinterkopf und zog die Augenbrauen nach oben, um Maria zu signalisieren, dass ich sie nicht verstand. Maria hingegen verstand nicht, dass ich sie nicht verstand und zog weiter ins Wohnzimmer und schrie dort weiter. Bevor ich nicht verstehen konnte, dass sie nicht verstand, dass ich sie nicht verstand, schlurfte ich ich in das offen stehende Zimmer von Aurore und erhoffte mir von dort wenig Klarheit.
 

„Maria meinte, Olivier hätte sie wieder geschlagen.“
– „Non, non, nicht geschlagen. Er hat sie im Treppenhaus zu Boden geschmissen und dabei ist sie offensichtlich ungünstig gefallen.“
– „Auch auf den Kopf?“
– „Ich glaube nicht, Stéphane. Wie kommst du denn dadrauf?“
– „Ach, nur so. Sie meinte auch, er würde dich bedrohen.“ Ich versuchte dabei zu lächeln, um damit zu zeigen, dass ich wüsste, wie lächerlich das klingen musste. Vermutlich würde sie mich nur auslachen.
Oui, oui. Er ist verrückt!“ Sie lachte nicht.
„Mit dem Tod?“ Ich auch nicht mehr.
Oui! Wie ich gesagt habe: Er ist verrückt.“
– „Aber auch ein begnadeter Koch! Wenn ich nur an dieses Dessert denke...“ Ich unterbrach meinen süßen Gedankengang, weil Aurore mich anschaute, als ob ich etwas Unpassendes gesagt hätte. Offensichtlich hatte Olivier nie für sie gekocht, was auch verständlich war. Warum sollte er auch für jemanden kochen, den er mit dem Tode bedrohte? Das macht ja auch kein Spaß.
 

Wir gingen in den Flur, wo die Sanitäter Maria auf eine Trage mit Fahrgestell spannten. Drei flics, die Wachtmeister, standen daneben. Sie befragten uns, ob wir noch etwas gesehen oder gehört hätten. Zum Glück übernahm Aurore den größeren Redeanteil, denn ich war zu dem Zeitpunkt schon heftig müde und wartete nur darauf, dass unsere Gäste die Wohnung wieder verließen. Einige Minuten später herrschte die Stille über die Wohnung.
 

Am folgenden Tag wurde Maria aus dem Krankenhaus entlassen. Dieses Mal hatte sie den Entschluss gefasst, Olivier anzuzeigen. Für das Gerichtsverfahren musste sie dann zur medicine légale, der Gerichtsmedizin, um sich dort die körperlichen Verletzungen von Oliviers Eifersucht bestätigen zu lassen.
„Kannst du mich morgen früh dahin fahren, Stéphane?“ – „Kein Problem. Das dauert nicht lange, oder?“ – „Non, non! Vielleicht eine halbe Stunde, maximal eine ganze. Wir fahren hin, ich erhalte meine Untersuchung und die Bestätigung, dass Olivier ein dreckiges Arschloch ist und dann fahren wir wieder zurück. C’est tout. Das ist alles.“

Die médicine légale ist eine Abteilung der Uniklinik der Stadt Rennes und das war der Grund, weswegen ich dort war. 


Ich erreiche die Tankstelle, wähle den kleinsten Kanister, den ich finden kann, befülle ihn mit flüssigem, fossilem Brennstoff und bezahle ihn und seinen Inhalt ordnungsgemäß an der Kasse, wie es sich für einen Deutschen gehört. Ich verabschiede mich von den hämischen Blicken der Kunden und des Tankpächters und setze meine Spaziergang unbeirrt fort. Mich kann heute nichts mehr schocken, denn den Abgrund habe ich bereits gesehen.

>> Zum zweiten Teil der Geschichte.

>> Zum dritten Teil der Geschichte.

>> Alle Frankreich 2009-Episoden.

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