Samstag, 19. Januar 2013

Frankreich 2009 (8): Das Nutellaglas

Wer kennt das nicht? Man kommt nach Hause, freut sich auf die Reste des gestrigen Abendessens, die man in voller Absicht für sich übrig gelassen hat. Und dann steht man vorm Kühlschrank und es ist weg, weil der Mitbewohner Angst hatte, es könnte schimmeln und es vorsichtshalber selbst gegessen hat. So ein Penner! 

Doch als mir so etwas in meiner WG in Frankreich passierte, traf es mich emotional härter als sonst bei ähnlichen Aktionen. 



Mit zwei Einkaufstüten bewaffnet, quetsche ich mich durch die Tür, eile in die Küche, reiße mir die Jacke vom Leib, schmeiße sie in die Ecke, entleere die Tüten und arbeite mich so in wenigen Sekunden vor zu ... meinem Schatz! Oh! geliebtes Schwarzbrot, endlich habe ich dich gefunden! Nach fast einem Jahr in Frankreich kann ich endlich wieder Brot essen, daß den Namen verdient. Jaja, du bist industriell hergestellt und Zuhause hätte ich dich mit dem Arsch nicht einmal angeschaut, doch mein Verdauungstrakt verzehrt sich nach ein wenig Liebe und Zärtlichkeit und Ballaststoffen.
 

Komm her geliebtes Schwarzbrot, lass mich dich ausziehen!
 

Komm her, geliebtes Schwarzbrot, lass mich dich einmassieren mit Butter. Oh ja, das gefällt dir, nicht wahr? Rrrrrrrrrr..... meine Zunge hat jetzt schon eine Erektion.
 

Komm her, geliebtes Schwarzbrot, lass mich dich einer guten Freundin von mir vorstellen, einer dunklen Schönheit, die Königin unter den Brotaufstrichen! Wir drei werden gleich eine Gaumenorgie feiern, die sich gewaschen hat. Sie ist gleich hier im Schrank. Siehst du? Sieh mal, wie sie freut dich zu sehen! Oh ja...
 

?
 

Oh ...
 

...
 

Scheiße... sie ist weg.
 

Das Nutellaglas ist leer. Ratzefatz leergeputzt.
 

Was zur Hölle...? Wie konnte ...? Wer ...? Warum ...? 
Ich muss mich setzen. Am liebsten würde ich schreien, doch die Nachbarn rufen dann aus reiner Routine die Polizei. Also lasse ich es.
 

Es war Aurore. Sie war es sicher. Sie kleptomaniert schon seit Wochen Schmuck und Kleidung von Maria, bescheißt ihren Ex  und dazu bescheißt sie noch den Typen, mit dem sie ihren Ex bescheißt. Dazu würde Maria nie meine Nutella leer machen. Außer ihren Pillen, den in der Mikrowelle aufgewärmten Kaffee und ihren Zigaretten verzehrt sie kaum etwas. Wenn sie das Parfum, daß sie sich täglich draufsprüht, trinken würde, hätte sie sicher weniger Gesundheitsprobleme. 

Was ist denn das für eine Art? Wenn ich schon vorher nicht gefragt werde, kann man mir doch wenigstens hinterher Bescheid geben, daß man mein Zeugs weggefuttert hat. Ist ja nicht so schlimm, dann kauf ich mir eben neues. Doch jetzt komme ich eben vom Einkauf und habe so viel Lust noch einmal in den Supermarkt zu fahren, wie auf die große Twilight-Filmnacht mit allen Teilen, flankiert von Keinohrhasen, Pretty Woman und Stolz & Vorurteil. So ne Scheiße: Was hab ich mich jetzt auf Schwarzbrot mit Nutella gefreut! Was ist das nur für eine Welt, in der ein lieber Junge wie ich, der nie jemandem etwas zu Leide getan hat – was auch daran liegen kann, daß er noch nie überhaupt etwas gemacht hat – solche Schmerzen zugefügt werden? Ich hab hier alles ertragen: Ich war Zeuge häuslicher Gewalt; begrüße ungefähr einmal pro Woche Polizei und/oder Sanitäter in meiner Wohnung; höre mir Marias Beschwerden über Aurore an; höre mir Aurores Lästereien über Maria an; lasse mir Oliviers Unterstellungen, ich hätte was mit Maria am Laufen, gefallen (Pfui! Bäh!); raste nicht aus, wenn im Nachbarzimmer lautstark gepimpert wird – mehrmals pro Nacht ... 


Mit Allem kam ich zurecht, aber jetzt reicht’s! Verdammte Scheiße! Mir einfach das Nutella wegzufuttern! Wie verkommen kann so ein Mensch eigentlich sein! Wartet, bis ihr meine Alles und Jeden umwälzende Wut zu spüren bekommt!


Ich lasse das leere Glas Nutella neben dem Teller mit dem Schwarzbrot und dem angelehnten Messer mitten auf der Arbeitsfläche stehen als meine Anklage gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt – und gegen Aurores Verhalten. Das Geschirr steht da nicht wie sonst, wenn ich mir nach dem Essen vorgenommen habe, später abzuwaschen, dies vergesse, es am nächsten Tag wiederentdecke, fluche, da die Essensreste eingetrocknet sind, und Pfanne wie Teller für die nächsten zwei Tage einweiche, um guten Willen zu zeigen bis ich dann schlussendlich endlich abwasche oder mich bei meinem Mitbewohner entschuldige, weil er Platz oder Gerätschaften brauchte und so die Arbeit für mich bereits übernommen hatte. Oh nein! Das hier ist anders.
 

Hier klagt das bebutterte Brot sein Leid, weil es nicht gegessen wurde und das leere Nutellaglas schreit die Ungerechtigkeit in die Welt. Das ist kein unabgespültes Geschirr, das hier ist ein Alter der Nemesis, der mythischen  Rachegöttin und sie wird ihr Opfer bekommen – das schwöre ich! Wenn Maria und Aurore nach Hause kommen und diese Anrichtung sehen, werden sie merken, was sie angerichtet haben, sie werden den Schmerz fühlen, den ich gefühlt habe und sie werden vor meinem Zimmer wie Klageweiber um Vergebung flehen. Ich werde hart und unnachgiebig bleiben und erst, wenn sie ausreichend guten Willen gezeigt haben, werde ich nach zwei oder drei Tagen die Türe wieder öffnen und sie wieder ins Herz schließen, wenn sie sich gut führen.
Schweigend führe ich einen Protestmarsch ins Zimmer – ohne Worte, ohne Plakate und leider auch ohne Zuschauer, wodurch die Aktion so sinnlos wird wie die Bundesliga ohne Kaiserslautern.
 

Eine halbe Stunde später ist immer noch keiner Zuhause, um vor mir auf die Knie zu fallen. Bitter, dabei war mein Plan doch so ausgefeilt. Ich schwanke, ob ich ihn weiter verfolgen oder doch etwas anderes essen soll. Nach einem epischen inneren Kampf von ungefähr drei Sekunden und vier Tausendstel entscheide ich mich für Letzteres. Auf dem Weg zur Küche überlege ich mir, wie ich jetzt Maria und Aurore gegenübertreten soll. Soll ich so tuen, als wäre nichts gewesen, soll ich sie voller Kampfeslust und geballter Aggressivität anschweigen oder soll ich ihnen so lange Zahnpasta unter die Türklinke schmieren, bis sie sich entschuldigen? Und überhaupt: Was hat Maria mit dem leeren Nutellaglas zu tun? Das ist nicht einmal aus irrationaler Sicht nachvollziehbar... Ach! beleidigt zu sein, ist scheiße.
 

Aufs Brot schmiere ich mir Leberwurst. Das schmeckt nicht nur, es passt auch zur Stimmung.

Dazu reift in mir ein Gedanke: Mir gefällt es hier nicht mehr. Ich will nach Hause.



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